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Germ ist geil!

Germ ist geil!

Warum Hefe unser wertvollstes und nützlichstes Haustier ist.

Hefe ernährt und berauscht (!) uns schon seit vielen Jahrtausenden – und sie ist sehr gesund, wenn man sie nur richtig arbeiten lässt. Was viele nicht wissen: Die moderne Backhefe ist eine echte Wienerin.

TEXT TOBIAS MÜLLER | FOTOS LUKAS LORENZ
ARTWORK MAGDA RAWICKA & LUKAS FRIESENBICHLER

Jeder Gärung wohnt ein Zauber inne. Wenn eine Schüssel toter Teig plötzlich zum Leben erwacht, sich dehnt und streckt sowie Blasen wirft und blubbert, ist das ein magischer, mythischer Anblick.

Hinter dieser wundersamen Erweckung steckt eine nicht weniger wundersame Kreatur: Saccharomyces
cerevisiae, die Bäckerhefe. Sie besteht nur aus einer einzigen Zelle, ist nur etwa ein Viertausendstel eines Millimeters klein – und trotzdem hat sie die menschliche Geschichte wahrscheinlich mehr geprägt als jedes andere Lebewesen.

Dass wir Saccharomyces cerevisiae so lieben, liegt an ihrer speziellen Verdauung: Sie frisst Zucker und scheidet CO₂ und Alkohol aus. Wir verdanken ihr daher Bier und Wein, Sauerteigbrot und Striezel – und noch einiges mehr. Sie begleitet uns wahrscheinlich seit grauer Vorzeit, ganz sicher aber seit vielen Tausend Jahren, weswegen sie als erstes je von Menschen domestiziertes Lebewesen gilt.

So wie viele Tiere trinken auch Menschenaffen gern den Saft reifer Früchte, den Hefen vergoren haben. Schon unsere allerersten Vorfahren profitierten daher schon ziemlich sicher von Hefen, die sich allerdings noch von moderner Bäckerhefe unterschieden. Saccharomyces cerevisiae, wie wir sie kennen, dürfte irgendwann vor rund 15.000 Jahren in China erstmals mit Menschen in Kontakt gekommen sein.

Von dort kam sie über die Seidenstraße nach Europa und in den Rest der Welt. Sie dürfte als Allererste wässrigen Getreidebrei in ein berauschendes Getränk verwandelt haben. In Höhlen in Israel wurden rund 13.000 Jahre alte Anlagen zum Bierbrauen gefunden – sie stammen damit aus einer Zeit, in der Menschen noch keine Landwirtschaft betrieben. Manche Wissenschaftler gehen daher davon aus, dass wir überhaupt erst sesshaft wurden und mit Landwirtschaft begonnen haben, um uns besser dem Hefenhegen widmen und leichter und mehr Bier brauen zu können – die sogenannte Bierbrautheorie.

Ein wenig später – spätestens vor etwa 8.000 Jahren – wurde im heutigen Iran Traubensaft zu Wein vergoren. Beides – Bier und Wein – dürfte zunächst vor allem für religiöse Rituale benutzt worden sein – und steht damit ganz am Anfang menschlicher Kultur und Kunstproduktion.

Handsemmerl
Das Wiener Hefegebäck par exellence wurde erst durch Backhefe möglich. Schmeckt heute noch besser als damals.

Von da war es nur noch ein logischer Schritt, auch weniger flüssige Getreidebreie zu vergären: Es ist archäologisch belegt, dass spätestens um 4.000 vor Christus die Menschen im alten Ägypten Brot mit Sauerteig buken – also Getreidebrei, der von Hefen und Milchsäurebakterien vergoren wurde. Das war nicht nur deutlich schmackhafter und angenehmer zu kauen als unvergorenes Brot, sondern auch deutlich nahrhafter: Wird ein Teig fermentiert, dann werden zahlreiche Nährstoffe im Mehl aufgeschlossen, die für Menschen sonst schlicht unverdaulich und damit nicht verwertbar sind.

Die Backhefe ist eine Wienerin

Die allermeiste Zeit unserer Geschichte arbeiteten Brauer und Bäcker eng zusammen, sowohl für Bier als auch Brot wurde dieselbe Hefe verwendet. Das änderte sich erst im späten 18. Jahrhundert. Bis dahin waren vor allem sogenannte obergärige Bierstile wie Weißbier, Alt, Kölsch oder Pale Ale verbreitet. Die Hefen steigen dabei beim Brauen an die Oberfläche des Suds und können daher leicht abgeschöpft und an Bäcker verkauft werden. Als um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert untergärige Biere wie Lager in Mode kamen, hatten die Bäcker plötzlich ein bis dahin unbekanntes Problem: Hefemangel. Die Wiener Bäckerinnung schrieb daher einen Wettbewerb aus, um zu ergründen, wie sich Hefe am besten züchten lässt.

Das Verfahren, das der Wiener Brauer Ignaz Mautner gemeinsam mit Julius Reininghaus für den Wettbewerb entwickelte, ist bis heute in seinen Grundzügen internationaler Standard. Auch die erste kommerzielle Trockenhefe der Welt wurde 1822 in Wien hergestellt und verkauft. Weil diese gezüchtete Bäckerhefe viel effizienter war als Bierhefe oder der gute alte Sauerteig, wurden ganz neue Formen von Brot und Gebäck möglich.

Eine reine Hefegärung entwickelt zwar weniger Geschmack als ein Sauerteig, in dem neben Hefe noch zahlreiche andere Mikroorganismen leben, dafür hat sie viel mehr Triebkraft, was gerade bei üppigen Teigen wie Brioche wichtig ist; und sie verfärbt den Teig nicht grau-braun – reine Hefeteige bleiben nobel-weiß.

Striezel mit Rosinen
Flaumig, fluffig, herrlich luftig – unser Striezel ist eine der besten Arten, das Wunder Hefe zu erleben!

Zusammen mit dem berühmten pannonischen Mehl war die Wiener Hefe verantwortlich dafür, dass schneeweißes Wiener Feingebäck wie die Semmel oder das mürbe Kipferl weltberühmt wurden und flauschige, weiße Backwaren auf Französisch bis heute Viennoiserie heißen (mehr über diese Geschichte
und wie ein Wiener das Croissant nach Frankreich brachte, finden Sie übrigens auf unserer Website in
der Geschichte „Das Croissant, ein echter Wiener“.)

Hefegebäcke wie Semmeln und Salzstangerln sind immer noch die beliebtesten Backwaren der Österreicher, zu Feiertagen wie Ostern kommen noch Spezialitäten wie Pinze und Brioche hinzu. Auch bei Sauerteigbroten arbeiten Bäcker oft mit zusätzlicher Backhefe: Der Sauerteig sorgt dann fürs Aroma, die Extrahefe dafür, dass der Teig ausreichend aufgeht.

Butterpinze
Hefegebäcke sind in allen Kulturen Feiertagsgebäcke – wie unsere köstliche Osterpinze. Schmeckt nicht nur zu Ostern.

Alles – außer ungesund

Nach vielen Jahrtausenden, in denen sie als magisch und Wunder gegolten hat, hat der Ruf der Backhefe in den vergangenen Jahren ein wenig gelitten – zumindest bei der immer größer werdenden Gruppe an Menschen, die meinen, Hefe nicht gut zu vertragen. Der Vorwurf: Moderne Hefe sei schlecht für die Verdauung und könne Darmbeschwerden auslösen.

Es stimmt schon: Hefen haben sich zwar in den vergangenen Jahrtausenden verändert und sind dank menschlicher Zucht immer effizienter geworden. Dank wiederbelebter Hefen aus ägyptischen Gräbern wissen wir, dass diese Hefen bei weitem nicht so gute Gärer waren wie unsere moderne Backhefe. Schlecht verträglich sind sie für uns trotzdem nicht. Wir nehmen mit Brot und Gebäck nur minimale Mengen Hefe zu uns, gleichzeitig sind Hefen ein wesentlicher Bestandteil der Flora des menschlichen
Darms. Sie bestehen aus wertvollem Protein, enthalten zahlreiche Aminosäuren und Unmengen an B-Vitaminen, weswegen sie etwa als Nahrungsergänzungsmittel gegessen werden. Veganer benutzen
sie außerdem gern als Würzmittel und Käseersatz.

So gut kann Hefe schmecken, dass sie seit kurzem sogar einer der besten Köche der Welt verwendet: Riccardo Camanini serviert in seinem Lido 84 am Gardasee eine Carbonara mit Trockenhefe statt mit Käse. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Zunahme an Unverträglichkeiten an einer anderen Art zu backen liegt. Oder anders ausgedrückt: Schuld ist nicht die Hefe, sondern die Art, wie sie verwendet wird. Sie lässt sich nämlich nicht gern hetzen. Während der langsamen Gärung werden zahlreiche Stoffe im Teig abgebaut, die mitunter für manche Menschen schwer verdaulich sind. Wenn diese Zeit fehlt, bleiben die Stoffe im Teig und Brot und Gebäck können schlechter verträglich sein.

Mürbes Kipferl
Ein Vorläufer des Croissants – und wie die Semmel ein echter Wiener. Verdient es, wieder öfter gegessen zu werden!

In traditionellen, handwerklichen Bäckereien wie der Bäckerei Ströck darf jeder Teig, auch reine Hefeteige, mindestens ein paar Stunden, oft auch Tage gären, bevor er gebacken wird. Für die Semmerln etwa wird bei Ströck ein sogenannter Poolish angesetzt, ein Vorteig, der über Nacht langsam fermentieren darf, bevor er mit dem Hauptteig gemischt wird. Für Brioches und Striezel kommt ein klassisches Dampfl zum Einsatz.

Sogenanntes hefefreies Sauerteigbrot, wie es von manchen Bäckereien verkauft wird, enthält genauso Hefe wie jedes andere aufgegangene Brot. Zwar leben hier auch Milchsäurebakterien und verschiedenste wilde Hefearten, Saccharomyces cerevisiae ist aber meistens dominant – vor allem, wenn sie in einer Bäckerei angesetzt wird, in der auch mit Reinzuchthefe gearbeitet wird. Wer nicht in einem klinisch sauberen Labor bäckt, kann Backhefe nämlich nicht davon abhalten, auch andere Teige zu besiedeln. Wirklich (weitgehend) „hefefrei“ sind nur unvergorene Flachbrote wie jüdische Matze, levantinisches
Lavash oder frische Palatschinken – und die findet man eher selten bei uns in der Bäckerei.

Die Hefewürfel für unsere Mauer hat uns freundlicherweise Lesaffre Austria AG zur Verfügung gestellt.

Was Hefe sonst noch alles kann

Saccharomyces cerevisiae ist zwar die prominenteste, aber bei weitem nicht die einzige Hefe. Wissenschaftler kennen insgesamt mehr als 6.000 verschiedene Hefen. Manche von ihnen leben auf Pflanzen, andere auf Felsen; manche in tausenden Meter Tiefe auf dem Grund des Ozeans, andere im Darm von Insekten oder im ewigen Eis. Wilde Hefen – wie die Backhefe – kommen überall in der Natur vor. Zwar gibt es einige, die für Menschen schädlich sind, der allergrößte Teil ist aber harmlos oder sogar
extrem nützlich. Hier einige tolle Dinge, die Hefe kann:

Medikamente
Mehr als die Hälfte des künstlich erzeugten Insulins wird mithilfe der Hefe Pichia pastoris produziert. Daneben erzeugen Hefen zahlreiche andere medizinische Wirkstoffe, etwa Wirkstoffe gegen Malaria oder Impfstoffe gegen Hepatitis B. Derzeit wird auch an einem Covid-Impfstoff geforscht, der mithilfe von Hefen erzeugt wird.

Farbstoffe
Dass der Lachs aus dem Supermarkt appetitlich rosa ist, verdankt er einer bestimmten Hefe. Sie produziert einen roten Farbstoff, der an Zuchtlachse verfüttert wird.

Kunststoffe
Hefen könnten helfen, Kunststoffe künftig nicht mehr aus Erdöl, sondern Zucker herzustellen. Im Labor ist das bereits möglich, allerdings sind die Kosten derzeit noch zu hoch für eine breite Anwendung.

Biosprit
Ein Großteil des Biosprits wird derzeit mithilfe von Hefen hergestellt.

CO2 fressen
An der Universität für Bodenkultur Wien wird derzeit an einer Hefe geforscht, die CO2 aus der Luft aufnehmen kann. Sie könnte etwa in Filteranlagen für Fabriken zum Einsatz kommen oder eines Tages helfen, CO2 wieder aus der Atmosphäre zu entfernen.