Und es gibt kaum eine schönere Form, auch den Sommer zu feiern – solange sich nur jemand findet, der genügend Champagner einkauft.
Text: Severin Corti & Illustrationen: Masha Manapov
In England beginnt der Sommer bereits am 1. Mai. Das hat nichts mit dem Wetter oder gar dem gregorianischen Kalender zu tun, sondern mit einer völlig anderen, typisch britischen Zeitrechnung: An jenem Tag nämlich, da normal arbeitende Menschen feiern, dass sie überhaupt eine Hack’n haben, fällt für die Upper Class traditionell der Startschuss für das eleganteste Um-die-Wette-Trinken des Abendlandes: die Summer Season.
So nennt sich die legendäre, bis in den späten September reichende Ansammlung aufwendig organisierter sportiver und sonst wie freiluftiger Gelegenheiten, in teurem Zwirn und zartem Kleidchen ein Picknick zu veranstalten und sich in bester Gesellschaft bei Wind und Wetter mit Mayonnaise und Schlagobers anzupatzen. Das Picknick wird in England mit Hingabe betrieben. Zwei Events prägen den Beginn der Season: das 2000 Guineas Stakes in Newmarket – ein hochdotiertes Pferderennen – und der Rugby Cup in Wembley. Beide wären ohne kollektives Picknick schlicht undenkbar. Wer meint, dass das Wembley-Stadion als Picknick-Location wenig verlockend sei, der hat den Parkplatz des englischen Sportheiligtums noch nie erleben dürfen, nachdem er sich in ein Post-Rugby-Picknick verwandelt hat.
Anders als nach Fußballspielen stehen beim Rugby vorzugsweise dunkle Daimler, Bentley und Range-Rover in den Reihen. Aus den Kofferräumen heben Tweed-betuchte Herren (aber auch vereinzelte Butler) Klapptische und Delikatessen, Gedeck und Gebäck, vor allem aber Batterien klassischer Spirituosen, volle Eiskübel, Champagner. In prall gefüllten Körben harren Gurken und Lachssandwiches, „potted shrimps“ (Nordseekrabben in geklärter, gewürzter und gestockter Butter) mit Dill, Fasanenpastete mit zartbitter-fruchtiger Sauce Cumberland und andere Begleitumstände insularer Unterhaltung. Nirgendwo wird das, was der Kontinent an der spleenigen Inselmonarchie so unwiderstehlich findet, so offenbar wie bei diesen über den Sommer verstreuten Gelegenheiten, in eleganter (bei den adeligen Herren stets auch etwas schlampiger) Garderobe an allen möglichen und unmöglichen Orten zu speisen und zu trinken.
Der Champagner prickelt
Das Picknick wird in England mit einer Hingabe betrieben, wie sonst kaum wo, und das sprichwörtlich unbeständige Wetter stört dabei keineswegs. Bei prickelndem Regen champagnisiert man nonchalant in Henley, am Ufer der Themse, um sein Ruderteam anzufeuern oder hofft am Spielfeldrand des Windsor Polo Club, dass es Prinz Charles, William oder Harry möglichst unsanft aus dem Sattel und in den Gatsch hebt. Allzu aufmerksame oder gar ernsthafte Beschäftigung mit dem sportlichen Geschehen gilt es tunlichst zu vermeiden: Das wäre dem vergnüglichen und an sich gewinnenden Tagesverlauf nur abträglich.
Ähnliches gilt wohl auch für das Opernfestival im privaten Opernhaus des Schlosses von Glyndebourne, bei dem zwar sehr renommierte Dirigenten und Sänger auftreten, das in der Pause angesetzte Picknick im Schlosspark aber eindeutig die Hauptattraktion darstellt. Tatsächlich gehört es wohl zum zivilisierten Zeitvertreib, sich in eleganter Abendgarderobe an einem der zahlreichen Teiche niederzulassen, die Korken ploppen zu lassen, eine Partie Crocket zu vergeigen und der Sonne beim Sinken zuzusehen, während der zweite Teil irgendeiner dramatischen Oper noch auf einen wartet. Mit exakt 75 Minuten Pause zwischen den Akten ist dafür ausreichend Zeit.
Das Festland kann es mit derart distinguierten Picknicksitten schon lang nicht mehr aufnehmen. Einst waren die Picknicks der russischen Zarenfamilie, bei denen sich bis zu fünfzig Familienmitglieder auf Decken und Pölstern zum festlichen Mahl ins Gras setzten, um zu feiern, zu vergessen und Musik zu hören, legendär. Mitgebrachtes in fester und vor allem flüssiger Form gehört auch untrennbar zu den vergleichsweise plebejischen Freuden des Sammelns von Schwammerln und Beeren, die den russischen Speisezettel nach wie vor essenziell bereichern.
In Frankreich hingegen hat das Picknick auch im Jahrtausend nach dem Skandal um die Nackte in Manets „Déjeuner sur l’herbe“ einen unangenehmen Nachgeschmack. Im Land der hohen Gastronomie wird das Essen in allzu freier Natur meist mit schlechter Gesellschaft in Form von Fliegen, Wespen und Ameisen gleichgesetzt. Dennoch kann man sommers entlang der „routes nationales“ immer wieder Familien beobachten, die ihre Campingtische direkt neben der Straße, umtobt von Abgasen und Verkehrslärm, aufbauen, um „les cornichons, la mayonnaise“ und andere Viktualien, wie einst von Nino Ferrer in seiner Hymne ans „pique-nique“ besungen, mit labberig gewordener Baguette zu verspeisen.
Einmal im Jahr aber wird Picknicken für viele Franzosen zur patriotischen Pflicht: Wenn es das Glück will, dass der Tross der Tour de France irgendwo in der Nähe vorbeistrampelt. Dann werden Kind und Kühltasche, Tisch und Transistorradio eingepackt, und man macht sich’s an der Route gemütlich, bis irgendwann die Radfahrer kommen – worauf alle mit hochrotem Kopf und umgehängter Serviette aufspringen und möglichst dröhnend losbrüllen. Sobald der Tross vorbeigehechelt ist, kann bei angeregter Fachsimpelei weitergefeiert werden.
Klassisch französisches Sandwich
Ein unvergleichliches Sandwich des französischen Südens eignet sich in idealer Wiese dafür, zu Hause vorbereitet und nach stundenlangem Marinieren im Korb oder Rucksack genossen zu werden: Das Pan Bagnat (provenzalisch für „gebadetes Brot“) ist ein ausgehöhltes Weißbrot, das mit Tomaten, Jungzwiebeln, rohen Artischockenherzen, Kapern, Oliven, harten Eiern und Sardellen oder Thunfisch gefüllt und mit ordentlich Olivenöl begossen wird, worauf es stundenlang im eigenen Saft baden sollte. Wenig schmeckt so unbändig nach Sommer wie ein ausgiebig eingesafteltes Pan Bagnat am Strand, gewürzt mit ein paar unvermeidlichen Sandkörnern.
Im Mittleren Osten gehört das Speisen fernab zivilisatorischer Errungenschaften zu den beliebtesten Formen familiär-freundschaftlicher Geselligkeit – Feuer machen muss aber schon sein. Das lässt sich dieser Tage auf der Donauinsel nachprüfen, wo zahllose Großfamilien im Schatten von Bäumen Spieße und Koteletts, marinierte Hendlteile und, ganz wichtig, reichlich Gemüse auf den Grill werfen. Gastfreundschaft und Großzügigkeit sind die zentralen Werte solcher Feiern, je mehr Gäste, desto gelungener das Picknick. Das dürfen neugierige Spaziergänger hier regelmäßig am eigenen Leibeswohl erfahren.
In Ägypten ist „Shem en Nessim“, das Fest zum Frühlingsanfang, ein besonderer Anlass fürs Speisen in der Botanik. Man fährt aufs Land, per Auto oder Boot, und atmet bewusst die Frühlingsluft ein, die an jenem Tag besonders wohltuend sein soll. Bis irgendwann die Nargilehs entzündet werden, süß parfümierter Rauch aufsteigt und es Zeit für die erste Partie Backgammon wird.
Poetisch und feinsinnig begehen dagegen die Japaner das Picknick – zumindest in der Theorie. Bei Vollmond und zur Kirsch- oder Chrysanthemenblüte werden kunstvoll lackierte Bentoboxen gefüllt und verpackt, damit die Schönheit der Natur auch anhand entsprechender, saisonaler Delikatessen verinnerlicht werden kann. Das Naturerlebnis wird jedoch durch abertausende andere Zelebranten beeinträchtigt, die alle zur selben Zeit das Gleiche im Sinn haben. So liegen die Picknickdecken dicht an dicht, was den Vorteil hat, dass auch des Nachbarn Ode an den Mond nicht ungehört verhallt.
Um die Ahnen zu ehren, wird in China und auf den Philippinen traditionell „Saontu“ abgehalten. Das bedeutet übersetzt „Essen am Berg“, tatsächlich finden die Picknicks aber auf dem Friedhof statt. In manchen Dörfern der südlichen Provinz Kanton werden ganze Schweine, fertig gegrillt und braun glasiert, zu den Gräbern der Ahnen geschleppt. Diese sollen sich am spirituellen Gehalt des Essens laben, dann folgt der fröhliche Teil der Zeremonie: Die Sau wird an Ort und Stelle vom lebendigen Teil der Familie verspeist.
Und wir erkennen: So ernst kann der Anlass gar nicht sein, als dass sich nicht fröhlich ein Picknick rundherum organisieren ließe. Schließlich hat der letzte Winter viel zu lange gedauert, um nicht jede sich bietende Gelegenheit am Schopf zu packen, die Schuhe von sich zu schleudern, die Ukulele einzupacken und mit F. Scott Fitzgerald zu krähen: „Life tastes better outdoors!“ Und das Essen sowieso.