TEXT SEVERIN CORTI
Der Christstollen ist nicht nur besonders köstlich-vorweihnachtlich, er ist auch ein historisch wichtiges Gebäck und wurde einst deshalb in sein Kleid aus Butter und blütenweißem Staubzucker gepackt, um an das Christuskind in Windeln zu gemahnen. Manche wollen ihn gar für die Reformation verantwortlich machen. Porträt eines Gebäcks mit Geschichte.
Man muss sich das einmal vorstellen. In der Vorweihnachtszeit des Jahres 1429, in einer Epoche, die man mit gutem Recht als tiefes Mittelalter bezeichnen kann, wurde der Hofbäcker Heinrich Drasdo am sächsischen Fürstenhof in Torgau mit einem Gebäck für die durchlauchtigsten Damen und Herren vorstellig, das aus einem schweren Germteig mit Butter und raren Gewürzen, überreichlich Rosinen sowie kandierten Zitronen und Orangen gemacht war, bestrichen mit ausgelassener Butter und gewälzt in Zucker.
Neben den Gewürzen aus Indien und China und den mühselig über die Alpen transportierten kandierten Südfrüchten war speziell der Zucker in dieser Zeit auf eine Art teuer, die sich nicht anders als sündhaft charakterisieren lässt. Nur damit wir uns eine Vorstellung machen können: Drei Kilo Zucker kosteten damals so viel wie eine ganze Kuh. Der Christstollen war so ziemlich das Abgehobenste, Luxuriöseste und Feinste, was man sich in dieser Zeit überhaupt ausdenken konnte – und auch das nur mit viel frivoler Fantasie.
Der Fürst und sein Hofstaat waren hingerissen. Jedoch der Papst war strikt dagegen. Die Fastengesetze waren streng einzuhalten, da kannte der Mann in Weiß gar nichts. Schon die Verwendung von Butter und Eiern waren in der Fastenzeit streng verboten, jene von Zucker als „welscher Leckerei“ schon gar.
Es half auch nichts, dass der Stollen „Christstollen“ genannt wurde und mit seinem blütenweißen Äußeren und der länglichen Form ganz explizit an das in Windeln gepackte Christuskind erinnern sollte, wie es unschuldig, fromm und rein in der Krippe liegt.
Dennoch wandte sich auch Kurfürst Friedrich II. der Sanftmütige im Jahr 1430 an Papst Nikolaus V., und zwar auf richtig spitzfindige Art: Er erbat, dem Adel im Kurfürstentum Sachsen das reichhaltige Festgebäck ausnahmsweise zu genehmigen – aus gesundheitlicher Notwendigkeit: Der darin enthaltene Zucker wurde als wirksame Arznei angepriesen, die das Fieber senke, welches bei der Jagd durch den Wolfsbiss drohe.
Papst Nikolaus V. war das zu frech, er lehnte ab. Allein der Christstollen war eine zu große Versuchung, um es nicht immer wieder zu versuchen. Insgesamt beschäftigten gleich mehrere Generationen sächsischer Kurfürsten nicht weniger als vier Päpste mit der allerhöchsten Zulassung des Christstollens – jedoch in allen Fällen erfolglos.
Erst der berühmte „Butterbrief“ von Papst Innozenz VIII. aus dem Jahr 1491 genehmigte zumindest die Butter als fastentaugliches Fett. Ohne die Gefahr, Höllenqualen erleiden zu müssen, aber mit gutem Gewissen ging das große Stollenbacken in Sachsen erst mit Durchsetzung der Reformation los, ab 1539. Manche Schleckermäuler behaupten gar, dass der Stollen gar ein Mitgrund für die Loslösung von Rom und die Reformation als Ganzes gewesen sei – aber das hält historischer Überprüfung nicht stand.
„Makellos germanisch“
Sächsisch ist der köstliche Stollen aus Torgau in seinem Wesen bis in die Jetztzeit geblieben, inzwischen
gilt aber Dresden als Heimat des edlen Germgebäcks. Der berühmte Publizist und Gourmet Wolfram Siebeck hatte also völlig recht, als er den grandiosen Stollen einst als „makellos germanische Schöpfung“ charakterisiert hat – ganz gegen seine explizit deutschkritische Liebe zu gutem Essen.
Auch den Wienern wird bekanntlich eine durchaus kritische Haltung zur Qualität deutscher Gennusskultur nachgesagt. Zumindest beim Christstollen ist es aber Liebe auf den ersten Blick gewesen. Das zeigt auch die lange Tradition des Ströck-Stollens, der als Fixstern am Firmament weihnachtlichen Backwerks nicht wegzudenken ist. Natürlich hat der Stollen von Ströck dank spezieller Gewürze einen eigenen, wienerischen Touch, von der Grundidee aber ist er ganz zweifelsfrei in die Tradition deutscher Stollen einzureihen.
Der Christstollen ist, auch wenn er urdeutsch ist und im „Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache“ nicht ohne Komik als „pfostenförmiges“ Gebäck definiert wird, eben echt ein toller Kuchen.
Daran kann auch die Tatsache nichts ändern, dass die Christstollen zu DDR-Zeiten aus Dresden, also dem Osten, zu kommen hatten. 350 Tonnen schickten die Kommunisten trotz extremer Mangelwirtschaft bis 1989 alljährlich in den Westen, um die angebliche Überlegenheit des Kommunismus auch kulinarisch zu forcieren. Dass die eigenen Leute derweil kaum etwas zu beißen hatten, war als Preis offenbar zu verkraften.
Weil die jenseitig reichhaltige Kreation mit einem Katalog aus Zutaten, denen einst der Nimbus des Exotischen und Extravaganten anhaftete, so deutsch ist, wird seine korrekte Zubereitung bis heute durch einen eigens gegründeten Verein überwacht – zumindest in Dresden. Laut Richtlinie des Schutzverbands Dresdner Stollen e. V. hat der Teig zu gleichen Teilen (!) aus Mehl und Butter zu bestehen, dazu kommen 65 Gramm Sultaninen, je 100 Gramm Mehl, kandierte Zitronen- und Orangenschale, Mandeln und Bittermandeln sowie Gewürze in Form von Vanilleschote, Anis, Zimt, Koriander, Nelken, Piment und Kardamom. Nach dem Backen wird er getauft (zur Gänze in flüssige Butter getaucht), mit Zucker lückenlos bestreut und nach dem Auskühlen dick mit Staubzucker beschneit.