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Aufs Korn gekommen

Aufs Korn gekommen

In unseren Breiten hat Roggenbrot Tradition. Jetzt wird es weltweit wiederentdeckt.

In Mitteleuropa verdanken wir ihm unser Leben, sein würzig-aufregender Geschmack hat Generationen geprägt – und trotzdem wollte für lange Zeit keiner mehr Roggenbrot essen. Nun aber feiert der Roggen ein Comeback: dank einer jungen Bäckergeneration, neuer Backtechniken und alter Sorten.

TEXT TOBIAS MÜLLER & ILLUSTRATIONEN MAGDA RAWICKA

Begonnen haben dürfte er als Unkraut. Irgendwann um 2000 vor Christus, in einem Jahr mit besonders üblem Wetter, brachte ein Händler einen verunreinigten Sack Weizen aus dem Kaukasus an die Ostsee. Unter die Weizenkörner waren auch ein paar etwas längere, etwas spitzere, ein wenig grünlichere Körner gemischt.

Als die Saat gesät war, ging der Weizen nicht auf. Das Unkraut aber wuchs und gedieh trotz des widrigen Wetters hervorragend. Nach ein paar Monaten brachte ein Bauer die erste Roggenernte Europas ein – der Beginn einer Erfolgsgeschichte.

Im Vergleich zu Weizen ist Roggen erstaunlich anspruchslos und widerstandsfähig: Er wächst auf kargen Böden, braucht weniger Sonne und weniger Wärme, und kann bis hinauf auf 4.000 Meter Seehöhe und nördlich des Polarkreises angebaut werden.

Dementsprechend verbreitete er sich vor allem in jenen Gegenden, in denen sich Weizen schwertut – innerhalb weniger Jahrhunderte stieg der Roggen zum wichtigsten Getreide nördlich der Alpen auf.

Weizen bauen, Roggen essen

Roggen half ab dem frühen Mittelalter gemeinsam mit Hafer, Mittel- und Nordeuropa zu ernähren: Er war die wichtigste Energiequelle für die allermeisten Menschen und sicherte ihnen jahrhundertelang das Überleben, während der noble Weizen nur der Oberschicht vorbehalten war. Auch Bauern, die Weizen für die Herrschaft anbauten, aßen selbst Roggen. Das einst lange Roggenstroh wurde genutzt, um damit Dächer zu decken oder Ställe auszulegen. – Moderne Sorten sind dahingehend gezüchtet, dass ihr Wuchs deutlich kürzer ausfällt.

In Österreich zeugen bis heute Ortsnamen wie
Roggenreith im Waldviertel von der einstigen Bedeutung des Getreides – Reith ist ein altes Wort für die Rodung, denen die Wälder für Roggenfelder zum Opfer fiel. Während der Weizen in alten deutschen Texten als „Waitz“ bezeichnet wird, hieß der Roggen lange schlicht „Korn“, genauso, wie die Italiener zum Espresso einfach „caffè“ sagen.

Gut möglich, dass das auch der Grund dafür ist,
dass wir für lange Zeit immer weniger Roggen aßen, dafür aber jetzt wieder mehr davon essen: Als der einst edle Weizen nach dem Zweiten Weltkrieg endlich für alle erschwinglich wurde, wollten auch alle ihn essen und nicht mehr das alte „Korn“.

Bio-Ur-Roggenbrot
Eine besonders geschmacksintensive Brotspezialität, die Ströck aus Schlägler Roggen bäckt, der ältesten österrreichischen Roggensorte

Seit den 1960er-Jahren ist die Anbaufläche von Roggen in Österreich um stolze 80 Prozent zurückgegangen – 2020 waren nur noch 40.000 Hektar, Österreicher essen nur 9,2 Kilo Roggen im Jahr. Zum Vergleich: Beim Weizen sind es derzeit knapp 250.000 Hektar und 60 Kilo im Jahr. Weltweit betrachtet, macht Roggen überhaupt nur noch ein mickriges Prozent der angebauten Getreidemenge aus. Erst jetzt, wo niemand mehr Roggen essen muss, sondern dies kann, weil er so hervorragend schmeckt, ändert sich das wieder: Der Roggen feiert ein Comeback.

Sowohl die Anbaufläche als auch Menge nimmt seit ein paar Jahren zu, und Bäckereien wie die Ströcks merken, dass sich Menschen wieder für Roggenbrot interessieren: Die Verkäufe gehen kontinuierlich nach oben. Das liegt auch an einer neuen Generation von Bäckern und modernen Techniken, die es erlauben, das Brot luftig-leicht wie nie zuvor zu backen.

Mit Roggen zu backen ist eine ganz eigene Kunst. Er hat einige sehr spezielle Eigenschaften, die Bäcker vor große Herausforderungen stellen.
Wer aber mit ihm umzugehen weiß, kann außergewöhnlich gute Brote backen: Es kann herrlich geschmacksintensiv und ganz besonders saftig sein.

Ein gutes Roggenbrot gilt daher schon von jeher als Visitenkarte des Bäckers. Der intensive Geschmack liegt einerseits daran, dass Roggen von sich aus nach besonders viel schmeckt: Von Pilz- und Kartoffelnoten bis hin zu Malz-, Vanille- oder Butteraromen bringt er nur für sich genossen eine Reihe herrlicher Geschmacksnoten mit. Andererseits wird Roggenbrot so gut wie immer mit Sauerteig gebacken. Das sorgt, dank Milchsäure und langer Gärung, für noch mehr Geschmack.

Ganz besonders saftig

Die besondere Saftigkeit wiederum verdankt sich einer speziellen Form von Stärke im Roggen, der sogenannten Pentosane. Sie erlaubt es dem Roggenmehl, ganz besonders viel Wasser zu binden – bis zu acht Mal so viel wie sein eigenes Gewicht und damit stolze vier Mal so viel wie Weizenmehl. Roggenbrot ist deswegen nicht nur saftiger, sondern bleibt auch länger frisch als Weizenbrot. In Zeiten, in denen höchstens einmal die Woche gebacken wurde (in manchen Gebirgsgegenden einmal im Jahr!), war das ein großer Vorteil. Wer Roggenbrot isst, bleibt außerdem länger satt, was allen hilft, die zu wenig haben (historisches Problem) oder nicht zu viel essen wollen (modernes Phänomen).

Historisch betrachtet, war reines Roggenbrot trotz Sauerteiggärung meist eher ziegelartig und mitunter schwer verdaulich. Schon der erste Autor, der ihn je erwähnte, war ihm nicht wohl gesinnt: Plinius der Ältere beschrieb Roggen in seiner Naturgeschichte im ersten Jahrhundert vor Christus als „minderwertig und magenschädlich, nur geeignet, um
in Notzeiten den Hungertod abzuwehren“. 1550 schrieb Hieronymus Bock in seiner „Teutschen Speiszkammer“: „Das grobe ungebeutelt rockenbrot, vorab wans drucken (trocken, Anm.), seer schwärlich ist zu verdauen, gehört für starcke arbeiter und taglöner“. Und Pumpernickel, das vielleicht berühmt-berüchtigste Roggenbrot, heißt nicht von ungefähr
so: Der Name bedeutet „Furzteufel“ (vom Altdeutschen „pumpern“ für die Flatulenz und „Nick“ für den Beelzebub).

Bio-Roggen-Pur
Der reine, pure Geschmack von Roggen und Sauerteig – ein zeitlos gutes Brot, das ewig frisch bleibt.

Mit Roggen würzen

Roggen wurde und wird daher oft als eine Art Gewürz eingesetzt. In Wien etwa verleihen an die 20 Prozent Roggen dem klassischen Wiener Mischbrot sein unvergleichliches Aroma, das an die vielen Bauern und Arbeiter aus Osteuropa erinnert, die diese Stadt groß gemacht und ihren Geschmack geprägt haben. Auch weißes Gebäck, etwa Salzstangerln oder die legendären Handsemmerln, wurden für den Extrageschmack oft mit einem Hauch Roggenmehl verfeinert oder gestaubt. Bei Ströck wird das bis heute so gemacht.

Gleichzeitig aber haben auch die Bäcker dazugelernt. Die Familie Ströck beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit Roggen und Roggenmehl – so intensiv, dass sie gar ins Backlabor von Überbäcker Nathan Myhrvold in die USA eingeladen wurden, um den Wissenschaftlern dort zu erklären, was gutes Roggenmehl ist und wie man es verwendet. Das Ergebnis ist in der Backbibel „Modernist Bread“ nachzulesen, dem Nachfolgeprojekt von „Modernist Cuisine“.

Dank hervorragender Mehlqualität, besonders langer Gärzeiten, handwerklichen Könnens und genauer Temperaturkontrolle beim Gären ist es den Ströcks und anderen motivierten Bäckern mittlerweile möglich, reines Roggenbrot zu backen, das mindestens so luftig leicht ist wie manche Weizenbrote – probieren Sie einmal das Bio-Roggen-Pur und staunen Sie!

Auch reines Roggenfeingebäck, notorisch schwierig, haben die Ströcks mit dem Bio-Roggen-Pur-Weckerl oder dem Bio-Wiederweckerl im Programm. Und heuer haben sie beschlossen, Roggen noch in die letzte bisher reine Weizendomäne zu tragen, in die Patisserie: Ab dem 2. November 2021 gibt es in den Ströck-Filialen reine Roggenkekse zu kaufen. In unserem Artikel verraten wir Ihnen sogar, wie Sie diese selbst zu Hause backen können.

Bio-Roggen-Vollkorn-Eck
Lange galt Roggenvollkornbrot als, nun ja, sehr gesund. Dieses Brot zeigt, wie gut das volle Roggenkorn sein kann.

Roggenrausch

Roggen wird mitunter von einem Schädling, dem Mutterkornpilz, befallen, der berauschende und giftige Stoffe enthält. Im Mittelalter sorgten verunreinigte Roggenernten immer wieder für Massenvergiftungen. Heutzutage werden befallene Körner automatisch aussortiert, der Mutterkornpilz ist für Bäcker und Esser kein Problem mehr. Dafür gelang es dem Chemiker Albert Hoffmann 1938, aus dem Pilz Lysergsäurediethylamid zu isolieren – eine Substanz, die seither als LSD Karriere gemacht hat.