TEXT TOBIAS MÜLLER
PAPER ART MAGDA RAWICKA & FOTOS LUKAS LORENZ
Barbara van Melle vergleicht Mehl und Brot gern mit Wein und Trauben. „Niemand würde im Supermarkt grüne Trauben kaufen und dann erwarten, dass er daraus einen guten Grünen Veltliner machen kann“, sagt sie. „Aber die Idee, im Supermarkt ein Mehl zu kaufen und dann vom Feingebäck übers Baguette bis zum Brot alles draus zu machen, ist genauso absurd.“
Van Melle ist die Chefin von Kruste und Krume, einem Trainingszentrum für begeisterte Heimbäcker und Wiens erste Mehl-Boutique. Hier gibt es nicht bloß griffiges und glattes, Weizen- und Roggenmehl zu kaufen, sondern etwa Senatore Capelli, ein Hartweizenmehl von Italiens letzter Wassermühle, oder den Laufener Landweizen aus Oberösterreich, perfekt für klassisches Wiener Handgebäck, oder auch Bánkúti, eine besonders aromatische alte Sorte aus Ungarn. Und jedes Mal, wenn eine verdutzte neue Kundschaft ruft, „Aber Mehl ist doch Mehl!“, kommt van Melle so richtig in Fahrt.
So wie es verschiedene Rebsorten gibt, gibt es auch verschiedene Weizensorten, die alle ein wenig anders sind: Manche ergeben einen Teig, der beim Backen mehr aufgeht, andere bleiben dichter, manche gären schneller, manche langsamer, manche sind besonders gut für Sauerteige, andere für Zuchthefe geeignet. Außerdem hat Getreide genauso wie Wein ein eigenes Terroir: Der Boden und das Klima an jenem Ort, an dem es gewachsen ist, prägen seinen Geschmack und seine Backeigenschaften. Ein Mehl aus Getreide, das in der ungarischen Tiefebene gewachsen ist, wird niemals die gleichen Eigenschaften haben wie eines von einem Feld auf 1.500 Meter Höhe.
Daneben machen die Jahrgänge einen Unterschied, je nachdem, ob der Sommer heiß oder feucht, der Frühling sehr kalt oder der Herbst ungewöhnlich warm war; und schließlich wird das gleiche Getreide, das von zwei verschiedenen Müllern oder auf zwei verschiedenen Mühlen vermahlen wurde, ein anderes Mehl ergeben – schlicht deshalb, weil keine Walze, kein Mühlstein gleich ist und jeder Müller ein wenig anders arbeitet.
In den verschiedenen Ländern haben sich über die Jahrhunderte meist jene Getreidesorten, Anbaugebiete und Verarbeitungsmethoden durchgesetzt, die für die lokalen Backtraditionen besonders gut geeignet sind. Das ist der Grund, warum es selbst für sehr erfahrene Bäcker nicht immer leicht ist, andere Backkulturen zu kopieren, und warum etwa bestimmte französische Mehle gute Baguettes ergeben, manche italienische ganz wunderbare Pizza. Es ist natürlich nicht unmöglich, aus österreichischem Mehl gute Baguettes zu backen – aber das ist mitunter um einiges schwieriger.
WEIZEN
Weizen ist eine der allerältesten Getreidesorten. So wie es unzählige Arten von Wein gibt, sind auch Weizensorten mitunter sehr verschieden. In Österreich besonders wichtig ist die Sorte Arnold, sie liefert in unserem Klima sehr gute Ergebnisse (ähnlich wie der Grüne Veltliner beim Wein). Um zu kosten, was alles im Weizen steckt, probieren Sie zum Beispiel unser Bio-Feierabend-Christoph-Brot.
Das berühmte pannonische Mehl
Mehle aus Österreich und Ungarn sind wenig überraschend oft besonders gut für Gebäck wie Semmeln geeignet. Dabei haben wir generell großes Glück mit unserem Getreide: „Niederösterreich und der pannonische Raum gehören zu den besten Mehlanbaugebieten der Welt“, sagt Müller Johannes Frauenlob, der in Oberösterreich die Hochmühle Frauenlob betreibt, einen traditionellen Familienbetrieb, der etwa den oben erwähnten Laufener Landweizen vermahlt. „Deswegen exportiert Österreich auch Getreide. In Italien und Osteuropa wird es gern in die lokalen Mehle gemischt.“
Zu Zeiten der Monarchie war das österreichisch-ungarische Mehl daher auch weltberühmt und selbst in Paris äußerst gefragt, in den vergangenen Jahrzehnten ist es etwas in Vergessenheit geraten und heute nur noch Spezialisten bekannt. Mehlliebhaberin van Melle will das wieder ändern und ist momentan auf der Suche nach ungarischen Mühlen für ihr Geschäft.
So faszinierend die Vielfalt des Mehls ist – für Bäcker ist sie eine ziemliche Herausforderung. Anders als beim Wein erwarten sich ihre Kunden nämlich, dass ihr Brot, ihre Semmel immer gleich gut schmeckt, gleich groß, gleich saftig, gleich knusprig und gleich flaumig ist. Das allermeiste Mehl ist daher, um beim Weinvergleich zu bleiben, eine Cuvée. Eine der vielen Künste des Müllers ist es, die verschiedenen Getreide, die er von seinen Bauern geliefert bekommt, so zu mischen, dass das Mehl stets ähnliche Backeigenschaften hat.
DINKEL
Dinkel ist ein Verwandter des Weizens, wird aber noch nicht ganz so lange angebaut. Aus ihm gutes Brot zu backen ist gar nicht so einfach, wenn man aber weiß, wie’s geht, ist er höchst aromatisch. Sie können das etwa in unserem Bio-Dinkel-Vollkornweckerl schmecken.
Mehl ist ein Naturprodukt
Weil Mehl aber nicht im Labor gemacht wird, sondern ein Naturprodukt ist, gelingt das immer nur bis zu einem gewissen Grad. Jeden Tag in der Früh, wenn das neue Mehl in die Bäckerei Ströck geliefert wird, schicken die Müller auch die sogenannten Mehlkennzahlen mit: Datenblätter, auf denen die wichtigsten Backeigenschaften des Mehls aufgelistet sind. Die Bäckermeister und die Mischer studieren diese genau und überlegen, ob der Teig wohl etwas mehr oder weniger Wasser braucht, ob er klebriger oder fester, schneller oder langsamer gären wird oder ob er etwas mehr oder weniger Zeit im Ofen braucht.
Weil bei den Ströcks noch sehr viel in traditioneller Handarbeit gemacht wird, geht das ein wenig leichter: Bäcker aus Fleisch und Blut sind flexibler als die Walzen von großen Backmaschinen, sie fühlen, riechen, beobachten den Teig und passen das Rezept oder die Verarbeitung entsprechend an. „Mehl ist eine irrsinnige Wissenschaft“, sagt Philipp Ströck, Bäckermeister in dritter Generation und gemeinsam mit seinem Vater Gerhard derzeit für die Backstube verantwortlich.
„Es ist eine ständige Herausforderung, weil es immer ein bisschen anders ist. Sicher, irgendwas kannst du aus jedem Mehl backen, aber ein Produkt, bei dem dir so richtig das Herz aufgeht, das ist schwierig.“ Roggenmehle machen meist weniger Probleme, weil die Brote oft in einem Kasten gebacken werden, der ihre Form unterstützt, und weil niemand erwartet, dass sie besonders luftig aufgehen. Weizenmehle sind da bereits anspruchsvoller, und ganz besonders fordernd wird es, wenn man auch mit alten Getreidesorten arbeitet oder mit Mehlen, die nur aus einem einzigen Getreide von einem Bauern gemahlen wurden.
KURZES MEHLWISSEN FÜR HEIMBÄCKER
Die Bezeichnungen Griffig und Glatt geben an, wie fein das Mehl vermahlen ist. Bei glattem Mehl sind 99 Prozent der Partikel kleiner als 120 Mikrometer. Es wird für luftigere Teige wie Rouladen verwendet. Griffiges Mehl ist etwas gröber, die Partikelgröße liegt zwischen 200 und 300 Mikrometern. Es ist perfekt für etwas gröbere Teige wie Knödel-, Nockerl- oder Topfenteig. Universalmehl liegt zwischen den beiden und ist, wie der Name vermuten lässt, für jeglichen Einsatz geeignet.
Die Mehltype gibt an, wie viel Asche übrig bleibt, wenn man das Mehl verbrennt, was wiederum darüber Auskunft gibt, wie viel Schale noch im Mehl enthalten ist. Je niedriger die Zahl, desto weißer ist das Mehl. Beim Weizen sind drei Typen besonders wichtig: 480 ist das hellste Mehl im klassischen Handel, es wird vor allem für Kuchen verwendet. 700 ist das klassische Semmel- oder Weißbrotmehl. 1600 ist relativ dunkel und wichtig für ein gutes Mischbrot.
Beim Roggen sind Roggen 500 (helles Roggenmehl für Gebäck), Roggen 960 (für Mischbrot) und Roggen 2500 (auch Schwarzroggen genannt, mehr als Würze) die wichtigsten Typen. Ein klassisches österreichisches Mischbrot etwa besteht aus Weizen 700 fürs Volumen und Roggen 960 und Weizen 1600 für den guten Geschmack.
EINKORN
Zusammen mit Weizen gehört Einkorn zu den ältesten kultivierten Getreidesorten. Einkorn hat einen hohen Gehalt an Mineralstoffen und Beta-Carotinen und verleiht dem Brot einen feinen nussigen Geschmack – zu kosten etwa in unserem Bio-Einkorn-Leinsamenbrot.
Alte Sorten erfordern altes Wissen
Alte Sorten ergeben oft einen klebrigeren Teig, der mit großen Maschinen nicht so einfach verarbeitet werden kann und Handarbeit erfordert. Außerdem haben sie oft eine höhere Enzymaktivität als neue Züchtungen, was bedeutet, dass sie sozusagen wilder und unkontrollierter gären. Wer sich aber, wie etwa die Ströcks, auf sie einlässt, wird belohnt. Die Bäckerei stellt seit einem Jahr ein Brot aus der alten Sorte Schlägler Roggen her. „Dieser Roggen hat einfach einen wohligeren, intensiveren Geschmack, und das Brot bleibt länger frisch“, sagt Philipp Ströck.
Heimbäcker sollten sich von dieser Vielfalt aber nicht abschrecken lassen. Während des Lockdowns im Frühling, als der Kindergarten geschlossen war, buk Philipp Ströck zu Hause mit seinen Kindern statt in der Backstube – nicht mit dem Ströck-Mehl, sondern mit ganz normalen Bio-Mehlen aus dem Supermarkt. „Alle haben eigentlich sehr gut funktioniert“, sagt er. „Für Mehlspeisen und Feingebäck waren sie tadellos. Für eine super Biskuitroulade zu Hause brauchst du keine Spezialmehle. Bloß Baguette, Weizensauerteigbrote und Semmeln werden wohl nicht so wie vom Bäcker.“
Und wer anspruchsvollere Sachen backen will, kann jederzeit in Barbara van Melles Mehlboutique gehen.
GRUNDWISSEN MÜHLEN
In Österreich gibt es noch 92 Mühlen, noch vor 40 Jahren waren es noch fast zehnmal so viele. Mehr als die Hälfte – 50 – vermahlen weniger als 500 Tonnen Getreide im Jahr, was sie mehr zu Hobbybetrieben macht. Die Top Ten sind für den Großteil der Mehlproduktion zuständig und verkaufen auch viel ins Ausland. Der größte in Österreich tätige Mühlenkonzern ist Good Mills, zu dem etwa die Marken Eselmehl, Finis Feinstes und Farina gehören.
Die meisten modernen Mühlen sind Walzenmühlen: Das Getreide läuft durch immer enger aneinander stehende Walzen und wird so zwischen 16- und 32-mal zerkleinert. Für weißes Mehl wird die Schale dabei ausgesiebt (siehe auch Mehlwissen), für Vollkornmehl wird sie, nach dem Mahlen wieder zugemischt: Das sorgt dafür, dass die Stärkepartikel sehr fein gemahlen sind, aber trotzdem viele gute Bestandteile der Schale enthalten sind.
Während des Mahlens ist es ganz wichtig, auf die Temperatur zu achten: Durch die Reibung entsteht Wärme, wird das Mehl aber zu heiß, dann wird die Stärke beschädigt und Vitamine werden zerstört. Mehl, das zu heiß geworden ist, bildet einen klebrigen Teig, ähnlich einem Kartoffelpüree, das mit dem Pürierstab zubereitet wurde.
ROGGEN
Roggen wird in Europa seit der Bronzezeit angebaut und war in Mittel- und Osteuropa lange Zeit die wichtigste Getreideart. Vor allem alte Roggensorten ergeben ein besonders geschmacksintensives Brot – etwa unser Bio-Ur-Roggenbrot aus Schlägler Roggen, einer alten österreichischen Sorte.